Eine kurze Geschichte zum Start
"Na, kommst du mit ins Kino?"
"ja" möchte ich sagen, weil ich Lust auf den Film habe und ich die Person, die mich fragt, sehr mag. Ich verbringe gerne Zeit mit ihr.
"Ja" möchte ich sagen, da ich nicht gerne "nein" zu Menschen sage, die ich mag, weil ich um unsere Beziehung fürchte.
"Nein" möchte ich sagen, weil ich schon andere Pläne habe, malen wollte. Klar, das ist ja "nur" eine Verabredung mit mir selbst. Puh! Wie wichtig nehme ich das jetzt?
Außerdem spüre ich Hunger. Kinofutter fällt flach, denn ich möchte mich ja wieder etwas gesünder ernähren. Spricht also auch für ein "nein".
Zudem habe ich den Film schon meinem Freund versprochen. Wie sehr noch mal genau? War das richtig versprochen oder hatten wir da nur so vage den Konjunktiv bemüht. Egal, diesen Konflikt möchte ich auf jeden Fall vermeiden.
Hatte ich mir nicht neulich vorgenommen, wieder ein bisschen spontaner zu sein? Ach ne - streng genommen, möchte ich ja, dass andere mich als spontan empfinden. Mein neues möchte-gern-Image tendiert zum "ja klar!" Aber was ein blöder Grund, alles andere über den Haufen zu werfen. Ich bin nun mal nicht so spontan, resigniere ich leicht trotzig. Zumindest heute nicht. Ich werde "nein" sagen.
Aber wenn ich "nein" sage, werde ich es vielleicht bereuen und mir womöglich später noch Vorwürfe machen, mich vielleicht sogar ein bisschen zerfleischen, weil ich immer so unflexibel bin.
Ich merke, jetzt kommt ein emotionaler Twist. Ich schaue die Person vor mir kritisch an. Wieso stellt sie mir diese Frage eigentlich und bringt mich in diese, für mich unlösbare Situation? Sie weiß doch, dass ich mit sowas schnell überfordert bin. Wir hatten doch erst neulich so eine Situation! Mir wird warm und ich spüre ein bisschen Wut. Ich möchte mich abgrenzen. Ich möchte mich nicht bedrängt fühlen.
Ich möchte mich aber auch nah fühlen und gemocht. Ich atme tief durch. Und ich will mich mir auch nah fühlen und mich mögen. Ich atme wieder etwas ruhiger. Ja genau. Ich möchte wertschätzend sein, mit mir und meinem Gegenüber. Ich möchte offen kommunizieren und auch meine Bedürfnisse (und die meines Freundes - ja, ich glaube, der Film war fest versprochen) berücksichtigen.
Wie lang habe ich die Person nun angestarrt, ohne etwas zu sagen. Es kommt mir ewig vor. Aber schätzungsweise ging das alles ziemlich schnell. Und offen gestanden hab ich die Hälfte davon nicht mal bewusst wahr genommen, sondern nur ein Unwohlsein gespürt.
"Also..." beginne ich vorsichtig und hoffe, dass wir gleich einen guten Kompromiss finden, dem wir beide etwas abgewinnen können.
Die Sache mit den Bedürfnissen ist ganz schön komplex.
Das ist es, was diese kurze fiktive Geschichte verdeutlichen soll..
Bedürfnisse entstehen auf unterschiedlichen Ebenen: z.B. physisch, psychisch oder situativ, können sehr kurzfristig angelegt, historisch verwurzelt, wiederkehrend oder wechselhaft, antizipiert, laut, leise, stark, schwach, fordernd, massiv, groß, zart und/oder sehr mächtig sein. Zu einer Zeit können mehrere davon gleichzeitig auftreten, sie können sich ergänzen, voneinander losgelöst sein, sich ausschließen oder sich bekämpfen und bekriegen. Letzteres nennt man dann Konflikt.
Nicht immer kommt ein Bedürfnis klar bewusst, fühlbar und benennbar daher - teilweise ist es unbewusst, verdrängt, neblig oder versteckt sich hinter einem anderen Bedürfnis, verdammt zur Missinterpretation.
Bedürfnis-Konflikte sind also zwangsläufig vorprogrammiert - mit dem Außen und/oder mit sich selbst. Ein guter Ratgeber ist es, an dieser Stelle achtsam zu sein. Achtsam für die Bedürfnisse, achtsam für die potentiellen Konflikte und achtsam für die Handlungsmöglichkeiten, die in dieser Situation zur Wahl stehen.
Und wie gelingt das nun mit der Achtsamkeit?
Achtsamkeit entsteht, wenn es gelingt, Prozesse zu verlangsamen, genau hin zu schauen, hin zu spüren, zu hinterfragen und auf höchster Ebene wohlwollend aufrichtig mit sich zu sein.
Mit den 8 Fragen zur Bedürfnis-Reflexion kannst du unter "Laborbedingungen" (ohne unter Druck einer echten Situation zu sein) und in deiner Vorstellung unterschiedliche Situationen im Bedürfnis-Prozess gedanklich durchleben.
Vielleicht erkennst du dabei für dich typische Handlungsmuster, für die du dich auch in entsprechenden Situationen sensibilisieren kannst. Die Vorstufe für Entscheidungsfreiheit und die neue Wege zu gehen ist stets Achtsamkeit, für sich, die Gedanken, Gefühle und Impulse.
In diesem Sinne wünsche ich dir eine erkenntnisreiche Reflexion!

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